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Zurück ins Leben

Posted in Ich über mich, Inklusion, Nachdenkliches, and wasmirindensinnkommt

 Seit dem 1. April bin ich aus dem aktiven Arbeitsleben ausgeschieden. Eine Zäsur, die ich mir etwas anders vorgestellt habe.

 Im Grunde kam diese Pensionierung für mich zu früh, denn ich fühle mich noch voll im Saft, wie man so schön sagt. Dass ich nicht mehr arbeite, hätte nicht sein müssen. Mit meinen Erfahrungen wäre ich in der Lehrerfortbildung mit Schwerpunkten Medien, Inklusion und Offene Lernumgebungen sicherlich richtig aufgehoben gewesen. Die ein oder andere Veranstaltung hätte ich entwickeln, gestalten und durchführen können. Was in Hamburg zum Alltag gehört, dass Lehrer die nicht mehr vor der Klasse stehen können, anderweitig verwendet werden, ist in NRW leider nicht möglich.

 So ist es und ich muss mich in die Situation einfinden.

 Kein Problem habe ich immer gedacht, wenn ich mir die Zeit meiner Pensionierung vorstellte oder mir ausmalte, was ich alles noch erleben wollte. Hobbys gibt es genug. Fotografieren, endlich Zeit, sich intensiv mit Fotobearbeitung zu beschäftigen; Schreiben, zwei angefangene Kinderbücher und ein Krimi warten auf Vollendung; mit dem Fahrrad durch Deutschland fahren und eine Alpenüberquerung schaffen – die Liste ließe sich fast unbegrenzt fortsetzen.

Tja, dann kam das, was ich in meinen Vorstellungen als den absoluten Horror empfunden habe. Nichts! Gar nichts!
Ich saß im Sessel, tippte ein wenig auf der Tastatur, surfte ohne Ziel im Netz, und bekam einfach den Arsch nicht vom Sofa.
Begleitet wurde ich dabei einerseits von meinem nervenden Tinnitus und, was mir selbst im Herzen wehtat, den besorgten Blicken meiner Frau. Sie kannte mich so nicht, sah aber, wie mich die Situation belastete, ohne mir helfen zu können.

 Irgendetwas musste geschehen, um die verlorene Struktur, die der Arbeitstag vorgegeben hatte, in irgendeiner Art und Weise auszugleichen.

 Leichter gesagt als getan, denn die Depression, unter der ich immer noch litt und die mich lähmte, hinderte mich an allem, was ich mir vornahm. Umschlang mich so fest, dass selbst die kleinsten Dinge allergrößte Anstrengung erforderten.
In einem Werbeblättchen lass ich von den Helfenden Händen, die ehrenamtliche Mitarbeiter für kleinere Hilfeleistungen unter anderem bei Senioren suchten. Nach Tagen habe ich es geschafft, dort anzurufen und einen Gesprächstermin zu vereinbaren.
Ich war begeistert von der Idee und erklärte mich bereit mitzumachen. Ein Führungszeugnis musste ich besorgen, was einige Tage später in meinem Briefkasten lag und ich weiterleitete.
Mir gefiel nicht nur, dass dieses Ehrenamt eine nicht so strenge Regelmäßigkeit hatte. Aktivitäten wurden per Telefon abgesprochen, um anschließend die endgültige Terminierung mit dem ursprünglichen Anrufer eigenständig zu regeln. Eine kurze Rückmeldung nach dem Einsatz rundete die Sache ab. Gespannt wartete ich auf meinen ersten Einsatz.

 Ein weiterer Punkt, den ich in angriff nehmen musste, war meine scheinbar nie endenwollende und ständig präsente Depression. Die mangelnde Gedächtnisleistung, die mich ein wenig ängstigte und der Gedanke an eine Demenz durcheilte in immer kürzeren Abständen meine Gedanken. Ich suchte einen Arzt, der mir weiterhelfen konnte. Mein Hausarzt und alle anderen Ärzte, die mich wegen meiner Depression behandelt haben, meinte zwar immer, das sei normal bei meinem Krankheitsbild, das beruhigte mich allerdings faktisch nicht.
Die Durchforstung des Internets mit den entsprechenden Patientenbewertungen führte mich zu einer neurologischen Praxis. Der leitende Arzt wurde in den Bewertungen dermaßen mit Lob überschüttet, dass es mir als nicht authentisch erschien. Trotzdem machte ich einen Termin mit diesem Arzt aus und war pünktlich in der Praxis. Empfangen wurde ich von zwei Ärzten. Besser von dem Arzt und einer Ärztin. Mir wurde mitgeteilt, dass die Behandlung durch die Ärztin durchgeführt würde. Er, der Arzt, sei Chef und seine Kapazitäten seien für einen weiteren Patienten nicht ausreichend. Er sei allerdings jederzeit informiert und wenn ich das Bedürfnis hätte, auch für mich zu sprechen. Das hätte ich gerne schon bei der Terminvereinbarung erfahren. Sicherlich hätte ich in diesem Fall ebenfalls den Termin vereinbart und mich nicht so ein ganz klein wenig brüskiert gefühlt, wie bei der Eröffnung dieses Gespräches.
Für den nächsten Tag schlug man mir ein Termin für eine Untersuchung meines Kopfes vor, den ich annahm.
Bei dieser Untersuchung kam heraus, dass ich stark voneinander abweichende Fließgeschwindigkeiten der Blutströme im Hirn hatte. Diese machten die Aktivitäten meines Gehirns sichtbar – je höher die Fließgeschwindigkeit, je höher die Aktivität. Diese unterschiedlich intensiven Ströme, so sagte man mir, seien ein sicheres Zeichen meiner schweren Depression.
Von der Depression wusste ich und von den Fließgeschwindigkeiten im Gehirn hatte ich schon einmal gelesen. Trotzdem war ich überrascht und auch ein wenig erschrocken, dass sich das so dokumentierte. Ein MRT des Kopfes sollte mögliche Anomalien zeigen. Diese waren allerdings, sehr zu meiner Freude, nicht vorhanden.
Vereinbart wurde eine Repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) Therapie. Da ich mir trotz Erklärung durch die Ärztin wenig darunter vorstellen konnte, recherchierte ich im Internet.  Ich las Verheißungsvolles wie: Nach der ersten rTMS-Sitzung waren die Farben kräftiger und leuchtender oder: Ich konnte Töne hören, die ich bis dahin nicht so wahrgenommen habe. Viele andere Stimmen waren zu lesen, die mich eher zweifeln ließen.
Nach meiner ersten rTMS trat bei mir auch nichts dergleichen ein. Nicht nach der Zweiten, der Dritten, der Vierten. Bis heute, nach über zwanzig Sitzungen, habe ich nichts dergleichen bei mir feststellen können.
Eine Untersuchung ergab allerdings, dass die Fließgeschwindigkeit in meinem Kopf sich angeglichen hatte und kaum noch eine Differenz zwischen den einzelnen Regionen im Gehirn messbar war. Das war sicherlich ein Erfolg. Ich fühlte mich gelassener, ruhiger, aber gewiss nicht glücklicher.

 Es kann natürlich sein, dass man nach einer so langen Zeit in der Depression Glücklichsein aufs Neue erlernen muss.
Da ich seit Beginn der Behandlung abermals ein Antidepressivum einnehme, dessen Wirkung sich im Regelfall erst nach vierwöchiger Einnahme aufbaut, kann ich nicht so recht sagen, was mich gelassener gemacht hat.

 Die Gravitation meines Sofas scheint sich nicht wesentlich verändert zu haben. Aufstehen und etwas Tun kostet immer noch unendlich viel Anlauf und Kraft.
Sport betreibe ich allerdings regelmäßig. Jeden zweiten Tag geht in die Muckibude , das ist bei mir inzwischen verankert und es fehlt mir etwas, wenn ich es nicht schaffe.
Radfahren gelingt mir auch ebenfalls regelmäßiger. Ein Zeichen für mehr Aktivität sind die Texte, die ich auf meiner Homepage (http://blog.medienecken.de) ab und zu veröffentliche.  Lange Spaziergänge, immer öfter mit der Kamera in der Hand, runden meine Aktivitäten ab. Schreiben, Weiterarbeiten an meinen Kinderbüchern oder an meinen Krimi gelingen leider (noch) nicht.

 Bei den Helfenden Händen bin ich inzwischen ausgeschieden. Die Nachfrage war so gering, dass ich wochenlang gar keinen Auftrag erhalten habe.
Um zumindest einem Tag in der Woche eine Struktur zu geben, bin ich ehrenamtlich bei der Kölner Tafel als Beifahrer tätig. Je nach Tour kann der Einsatz acht bis neun Stunden dauern. Diese Art der Hilfeleistung steht in der Kritik, weil gesagt wird, die Hilfeleistung würde den Empfängern nicht helfen, sondern sie in ihrer Situation einzementieren. Das sehe ich nicht so und kann die Argumentation nicht nachvollziehen.

 Für mich ist es eine sinnvolle Tätigkeit, die mir vor Augen führt, wie dankbar ich sein kann. Und dankbar bin ich! Dankbar für meine Familie, dankbar für die wenigen Freunde, Bekannten und Kollegen, die mir seit Beginn meine Krankheit geblieben sind, dankbar, dass ich in hier in Deutschland lebe und auch dankbar dafür, dass es mir trotz aller Päckchen, die ich bisher zu tragen hatte, gut geht!

  Wenn es jetzt bald wieder mit dem Schreiben klappt …

P.S. Auch ich bin auf Inklusion angewiesen. Depressive Menschen führen meist ein Leben am Rande, werden irgendwann nicht mehr wahrgenommen und verwundert angeschaut, wenn sie lächeln oder lachen: „Ich denke, du bist depressiv. Wie kannst du da nur lachen?“
Inklusion, seit Jahrzehnten mein Ding. Nicht nur theoretisch, sondern gelebt. Leider sind die Menschen und das Land NRW noch nicht so weit, dass von einer Umsetzung der Inklusion geredet werden kann. Wäre das so, hätte ich sicherlich nicht aus dem Beruf ausscheiden müssen.